Intersexualität
Lange war das Thema Intersexualität ein Tabu. Erst mit dem Schweizer Tatort „Skalpell“ 2012 wurde die Problematik breit diskutiert.
Für Eltern ist es ein kleiner Schock, wenn Ihr Kind auf die Welt kommt und es nicht eindeutig feststeht, ob es nun ein Mädchen oder ein Junge ist. Früher wurden solche Kinder möglichst rasch operativ einem der beiden Geschlechter zugeordnet, was bei den Betroffenen im späteren Lebensalter oftmals Identifikationsprobleme verursachte.
Was ist Intersexualität?
Unter «Intersexualität» versteht man ein biologisch nicht eindeutiges Geschlecht. Das heisst, dass die Entwicklung des Fötus oder Kindes atypisch verläuft und dadurch die geschlechtsdifferenzierenden Merkmale (Penis, Vagina) nicht eindeutig männlich oder weiblich sind.
Diese Entwicklung kann bereits im Mutterleib, aber auch erst nach der Geburt, in der Pubertät oder erst im späteren Erwachsenenalter diagnostiziert werden. Medizinisch wird dann von "disorder of sex development" (DSD) bzw. einer "Störung der Geschlechtsentwicklung" gesprochen.
Die Diagnose DSD bedeutet versicherungsrechtlich ein Geburtsgebrechen, beinhaltet aber nicht, dass die betreffende Person deshalb schon medizinisch behandelt werden muss. Manche Formen von DSD haben jedoch lebensbedrohliche Begleiterscheinungen (z.B. Nebenniereninsuffizienz, Salzverlust) oder sind mit einem erhöhten Krebsrisiko verbunden, was medizinische Massnahmen erfordert.
In der Schweiz leiden – je nach Definition – rund eine von 3000 oder von 5000 Personen an dieser Krankheit.
Varianten von DSD
Es gibt verschiedenste Formen, Varianten, Einteilungen und Bezeichnungen von Intersexualität. Zu den häufigsten gehören:
- AIS (Androgeninsuffizienzsyndrom): Beim AIS ist der ansonsten männliche Körper weitgehend unempfindlich auf männliche Hormone. So wird ein Junge, der alle männlichen Geschlechtsmerkmale zwar hat, in seinem äusseren immer weiblicher aussehen. Es gibt 2 Einteilungen, das CAIS (komplette AIS) und das PAIS (partielle AIS).
- AGS (Adrenogenitales Syndrom): Der weibliche Körper produziert wegen Enzymmangel in der Nebennierenrinde zu viele männliche Hormone. Das bewirkt eine Vermännlichung der äusseren Genitalen.
- Gonadendysgenesie: Bei der Gonadendysgenesie handelt es sich um Chromosomenabweichungen, von der Chomosomenzahl oder von der Gestalt einzelner Chromosomen. Dabei fehlen meist funktionstüchtige Keimzellen. Häufig sind dann auch die äusseren Genitalien unvollständig ausgebildet. Es können auch Genmosaike vorliegen.
Was passiert bei einer Geschlechtsvariante?
Die Geburt eines Kindes mit einer Geschlechtsvariante ist eine grosse, emotionale Herausforderung für die Eltern. Gemäss Gesetz müssen sie sich rasch entscheiden: Ist es ein Junge oder ein Mädchen? In der Schweiz muss der Name mit Geschlecht des Kindes spätestens drei Tage nach der Geburt auf dem Zivilstandesamt eingetragen werden.
Anders in Deutschland: Dort kann das Geschlecht im Geburtenregister seit November 2013 offen bleiben, wenn es nicht klar ist, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Damit haben Eltern – und Kinder – Zeit, sich über das Geschlecht und die möglichen, geschlechtsangleichenden medizinischen Eingriffe eingehend Gedanken zu machen.
Zuerst einmal aber ist wichtig, dass die Eltern selbst eine möglichst normale Bindung zu ihrem Baby aufbauen. Das Kind muss sich geborgen fühlen, um ein gutes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Eltern sollen keine übereilten Entscheide fällen, sondern ohne zeitlichen und sozialen Druck das Beste für ihr Kind tun können. Deshalb werden die Eltern an ein Kompetenzzentrum verwiesen, in denen ein interdisziplinäres Team mit den erforderlichen medizinischen, psychologischen, rechtlichen, pädagogischen, sozialen, ethischen und anderen Fachkompetenzen die Beratung und Betreuung der Eltern und des Kindes übernimmt.
Es ist sehr gut möglich, dass sich die Begleitung über Jahre hinwegzieht und sich dabei die Zusammensetzung des Begleitteams über die Jahre verändert. Denn später wird das Kind entsprechend seiner geistigen Reife und mit psychosozialer Unterstützung in mögliche Behandlungsentscheide miteinbezogen.
Entscheidungen im Säuglings- und Kleinkindalter
Wenn ein Kind mit DSD geboren wird, müssen dennoch einige wenige medizinische Behandlungsentscheide bereits im Säuglings- und Kleinkindalter getroffen werden. Diese Entscheidungen müssen die Eltern treffen – im Interesse ihres Kindes.
Es werden dies keine einfachen Entscheidungen sein, weshalb ihnen das interdisziplinäre Beratungsteam zur Seite steht. Die Entscheidungen werden nämlich nachhaltige Auswirkungen auf die Identitätsbildung, die Fortpflanzungsfähigkeit, das sexuelle Erleben sowie die Beziehung zwischen Eltern und Kind haben.
Es gibt keine Gewähr, dass ein Entscheid, den die Eltern für ihr Kind fällen, für diesen Menschen in der Pubertät oder im Erwachsenenalter noch immer der beste war.
Sobald das Kind Urteilsfähigkeit erlangt, muss es selbst in eine medizinische Behandlung einwilligen, da es sich hierbei um die Wahrnehmung höchstpersönlicher Rechte handelt.
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Quellen:
- Informationsplattform humanrights.ch, Geschlechtsvarianten: Ethische Leitlinien für die Schweiz, www.humanrights.ch (4.11.2013)
- Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE, Zum Umgang mit Variantender Geschlechtsentwicklung, Ethische Fragen zur «Intersexualität», Bern, November 2012, www.netzwerk-kinderrechte.ch (4.11.2013)
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